Der Berg

 

Einige Tage später kehrte W. von seiner Reise zurück. Er wollte gerade seine Jacke über einen Stuhl hängen, als unter diesem aufgeschreckt der Kobold hervorkam. Was er da mache, wollte W. wissen.

„Ich suche das Palmolive“, kam zögernd die Antwort.

Das war gelogen, soviel wusste W. sofort. Der Kobold hatte wieder den altägyp­tischen Kalender zurechtgerückt. Oder die Zeitgleichung neuberech­net.

„Gespendet wird schließlich auch anderswo“, fügte der Kobold trotzig hinzu und ging mit einigen bekritzelten Zetteln und einem Ta­schenrechner in der Hand hinaus.

 W. begann, seinen Koffer auszupacken. Dabei musste er sich all die ärgerli­chen Kleinigkeiten vorstellen, die gleich auf ihn zukom­men wür­den. Er konnte sie vor sich sehen. Wie alte Bekannte, die man auf der Straße trifft, würde er sie wiedererkennen, obwohl er sie doch noch nie gesehen hatte.

 Wenig später betrat W. die Küche. Sie waren tatsächlich alle da, seine Be­kannten, wie es W. vorausgesehen hatte. Der überquellende Mülleimer, verkrustete Speisereste auf der Herd­platte und alles in den Schatten stellend der Berg, vor dem sich W. so gefürchtet hatte. Sie alle schienen wie aus einem Munde sprechend ihren uneinholba­ren Vorsprung proklamieren zu wollen.

„Es ist gar nicht so schlimm.“

 Der Kobold war wieder erschienen, und er zeigte jetzt in eine Ecke des Rau­mes.

„Man kann zwei Stühle übereinanderstellen.“

 Deutlich sah W. den schmutzigen Abdruck einer Schuhsohle auf einem der Stühle.

„Es ist dann ganz leicht, noch einen Teller zwischen den Berg und die Dec­ke zu schieben“, versuchte der Kobold zu beruhigen, und beide sahen eine Weile nachdenk­lich nach oben. Es würde sein Berg sein, wusste W. Niemand würde ihm dabei helfen.

„Außerdem ist morgen Karfreitag. Und der Tag der Kreuzigung des Herrn ist doch ein Fastentag“, ergänzte der Kobold noch.

 Der Berg würde also nicht größer werden, dachte W. Und irgendwie gefiel ihm der Gedanke, dass er jetzt einen ganzen Tag lang Zeit hatte für seinen Berg. Er würde ihn sorgfältig beobachten. Er würde um ihn herumgehen. Er würde ihn erschrecken. Er würde Schlachtpläne entwerfen. Schließlich wür­de er ihn atta­ckieren. Mit Palmolive würde er ihn attackieren. Er würde ihn demütigen und quälen. Er würde sich an seiner Hilflosigkeit ergötzen. Und endlich würde er ihn besiegt haben. Er würde seine Überreste ver­nichtet, ja er würde die Erinnerung an seine Existenz aus den Geschichtsbü­chern getilgt und dem Vergessen überantwortet haben. Oh wie er ihn hasste, diesen Berg.

 Inzwischen machte sich der Kobold auf den Weg zur Arbeit.

„Gespendet wird schließlich auch anderswo“, rief er noch und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Er trug wieder diese lustige, laubfroschgrüne Verkleidung, die so gar nicht konservativ aus­sah, und die niemanden vermuten ließ, dass ihr Besitzer gerade den altägyp­tischen Ka­lender zurechtgebogen oder die Zeitgleichung neuberechnet hat­te.

 Nach einer Weile versuchte W. dem Berg eine Tasse zu entnehmen. Er zog erst vorsichtig, dann fester und zuletzt zu allem entschlossen an ei­nem Henkel, der seitlich aus der Oberfläche herausragte. Aber es rührte sich nichts. Der Berg stand unbeeindruckt da, als würde er schon immer so da­stehen. Als wisse er um eine geheimnisvolle Unbesiegbarkeit, die ihn all die Menschen ver­spotten ließ, die ihm mit Palmolive bewaffnet nach dem Leben trachteten.