Die Jagdgöttin

 

Kaum etwas erinnert heute mehr an jene heroischen und glanzvollen Tage, als die Göttin Artemis noch jagend durch Griechenlands Wälder zog, als Herrin der wilden Tiere, immerzu von tanzenden Nymphen begleitet; mit Pfeil und Bogen bewaffnet; von Löwen, Hirschkühen und allerlei Vögeln umgeben, und mit im Winde wehendem, langen, goldenen Haar. Durch die von ihr ausgesandten Pfeile brachte sie abwechselnd mal Fruchtbarkeit und Gedeihen, mal Tod und Verderben über das Land, die Tiere und die Menschen.

 

Längst gehört dergleichen der Vergangenheit an, denn auch bei den Göttern, hoch oben auf dem Olymp, haben die Zeiten sich gewaltig verändert. Große und heldenmütige Taten sind auch dort dieser Tage nicht mehr allzu sehr gefragt - in unserer modernen, von trockener Bürokratie und Rationalisierungsdenken bestimmten Zeit. Und so kommt es, dass die einst so stolze Artemis sich nunmehr mit einem weitaus bescheideneren und gediegeneren Betätigungsfeld begnügen muss : Sie arbeitet jetzt als Selektionsvariante im Datenverarbeitungssystem einer mittelständischen Brauerei in Baden-Württemberg. In dieser Funktion ist sie für die retrograde Entnahme von Fertigware bei Um­packaktionen aller Art zuständig. Wenngleich diese Tätigkeit gewiss nicht allzuviel mit ihrem früheren Aufgabengebiet als Jagdgöttin gemein hat, so muss man doch feststellen, dass sie damit immerhin über einen krisensicheren Arbeitsplatz verfügt, was auch in den Kreisen der unsterblichen Götter heutzutage beileibe nicht mehr als Selbstverständlichkeit zu erachten ist.

 

Ja, zweifellos, krisensicher ist ihr Job allemal; denn umgepackt wird in jener mittelständischen Brauerei unablässig; von fleißigen Nowaken und Spatzen wird dies erledigt - tagaus, tagein und im Bedarfsfall auch des Nachts. Es werden Flaschen aus großen Kästen in kleine Kästen gesetzt; Blechbüchsen aus kleinen Kartons in große Kartons gepackt, oder umgekehrt; und dabei werden derart beträchtliche Mengen an Fertigware retrograd entnommen, dass man als gewöhnlicher Sterblicher nur allzu leicht den Überblick verlieren kann. Daher hatte man die Göttin Artemis mit der Aufgabe betraut, darüber zu wachen, dass retro­grade Entnahmen von Fertigware ausschließlich mit der Bewegungsart 261 vollzogen werden dürfen, denn andernfalls drohen empfindliche Straf­zahlun­gen an das örtliche Hauptzollamt. Und so wacht nun die Göttin Artemis mit unbestechlicher Strenge darüber, dass die Nowaken und die Spatzen ihre Fertigwaren stets mit der richtigen Bewegungsart umpacken; desgleichen wacht sie gewissenhaft über die genaueste Einhaltung des im Datenver­arbeitungssystem vorgeschriebenen Standardarbeitsplanes für Umpackaktionen.

 

Sicherlich, leicht gefallen war es der Göttin Artemis nicht, ihr ungezügeltes Leben in der freien Natur, in den endlosen Wäldern ihrer Heimat aufzugeben, um es einzutauschen gegen das beengte Dasein in winzigsten Mikroprozessoren und in feinsten Halbleiterdrähten. Einst, vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden hatte man ihr zu Ehren in Ephesos, an der Küste Kleinasiens, einen Tempel gigan­tischen Ausmaßes errichtet, umstellt von Dutzenden ionischer Säulen - ein Bauwerk, das von den damaligen Zeitgenossen zu den sieben Weltwundern gezählt wurde. Dann, in der hellenistischen Epoche, verbreitete sich ihr Kult als Göttin der Jagd und Muttergottheit im gesamten Mittelmeerraum; unter dem Namen Diana stand sie danach für einige Jahrhunderte im Dienste des Römischen Reiches. Den Tempel in Ephesos gibt es seit langem nicht mehr, und wer will es ihr verdenken, dass sie heute noch oft mit Wehmut an ihre großen Tage zurückdenkt, wenn sie wieder einmal, eingeengt und zusammengekauert auf der Festplatte des Rechners liegend, die neuesten Daten bezüglich der retrograden Entnahme von Fertigware bei Umpackaktionen berechnen muss.

 

Selbst ihren wohlklingenden und stolzen Namen darf sie heute nur noch in abgewandelter Form be­nutzen - dies hatte man ihr bei der Einstellung zur Auflage gemacht : Eine unschöne und nichts­sagende Abkürzung musste sie ihrem Namen voranstellen, angeblich um auf diese Weise ihre Kostenstellen­zugehörigkeit eindeutig herauszustellen; so hatte man es ihr bei der EDV-Abteilung gesagt. Seither lautet ihr korrekter und vollständiger Name EFS Artemis.

 

Man hatte ihr auch bei der Einstellung eine Personalnummer zugeteilt und sie mit einer Stechkarte ausgerüstet. Mit dieser wusste sie jedoch anfänglich nicht recht klarzukommen; denn, obgleich sie wie kein Zweiter mit Pfeil und Bogen umzugehen verstand, so war ihr die Bedienung einer Stechuhr doch vollkommen fremd; dergleichen hatte es auf dem Olymp nie gegeben. Auch heute vergisst EFS Arte­mis noch häufig, sich morgens an der Stechuhr anzumelden, bevor sie sich in die verschlungenen Pfade des Datenverarbeitungssystems einnavigiert; und bei der Personalabteilung erscheint dann auf dem Bildschirm wieder dieser hässliche und furchterregende rote Balken mit der Inschrift „EFS Artemis: ohne Begründung nicht anwesend“ oder „Negativ-Stunden vom AZV-Konto gebucht“. Noch häufiger vergisst sie die Stechuhr, wenn sie abends wieder den Elektronenströmen des Rechners entsteigt, um sich in den wohlverdienten und auch für Götter unverzichtbaren Feier­abend zu begeben; denn dann ist sie in Gedanken wieder in ihren unberührten Wäldern, auf der Jagd nach wilden Tieren. Und in dem roten Balken bei der Personalabteilung steht dann hin und wieder zu lesen: „EFS Artemis: Gehen-Zeit um 35 Uhr oder später“.

 

Einen gewissen Trost mag es für die Göttin Artemis bedeuten, dass sie sich inzwischen nicht mehr allein durch den Datendschungel jener mittelständischen Brauerei in Baden-Württemberg wühlen muss. Mittlerweile tummeln sich auf den Servern eine ganze Reihe weiterer altgedienter Gottheiten, Halbgötter und Heroen. Auch der große ägyptische Gottkönig Ramses, der vor langer Zeit das Land am Nil beherrschte und dort zu seiner Verherrlichung Kolossal­statuen erbauen ließ, heißt jetzt EFS Ramses und ist unablässig damit im Gange, in dem weit verzweigten EDV-System belanglose Daten zu selektieren, und diese auf dem Bildschirm sichtbar zu machen. Desgleichen die Helden des Troja­nischen Krieges, Hektor und Agamemnon; auch sie finden sich hier wieder; so wie sie einst vor Troja, in einem hölzernen Pferd sitzend, auf ihre große Stunde lauerten, so sitzen sie heute im Gehäuse eines Pentium-Laufwerkes, wenngleich sie dort keineswegs nach Heldentaten trachten, sondern bestenfalls auf ihren Feierabend warten. Für Heldentaten ist heute kein Raum mehr in mittel­ständischen Betrieben, und zur Errichtung von Kolossal­statuen mangelt es am nötigen Geld. Und so begnügen sich die Götter und Helden von einst damit, in der Erinnerung zu schwelgen und zu träumen, von der guten, alten Zeit - damals, als das Leben und Wirken von Göttern und Menschen noch nicht nach Bewegungsarten kategorisiert war, und als man sich noch nicht nach Standard­arbeits­plänen zu richten hatte.