Der Faulturm

 

Nun war es also doch geschehen, wovor sich W. so sehr gefürchtet hatte: Ein Bote aus dem Faulturm war erschienen; hoch zu Rosse war er gekommen, an einem trüben, verschneiten Wintertag. Etliche Male zuvor schon hatte es W. den Angstschweiß ins Gesicht getrieben, wenn der Bote wieder einmal rittlings über das Werksgelände zog, geradewegs in Richtung des kleinen, alten Backsteingebäudes, in dem die Fertigungssteuerung untergebracht war, und wo sich auch W.´s Büro befand. Eine schier unermessliche Furcht überkam W. jedes Mal, wenn von draußen auf dem Hof das drohende Geräusch des monotonen Hufschlags im dichten Schnee zu vernehmen war, und wie sehr erleichtert war er dann jedes Mal, wenn der Bote auf seinem Schimmel wenige Meter vor Erreichen der Fertigungssteuerung doch noch abdrehte, um in Richtung Sudhaus oder Filterkeller weiterzureiten.

 

Dieses Mal aber bog er nicht ab. Nein, direkt vor dem alten Backsteingebäude gebot er seinem Pferd Einhalt. Und als er dann herabstieg und das Tier festband, wusste W., dass es um ihn geschehen war. Eilenden Fußes stieg der Bote die Treppe hinauf, wobei er bei jedem Schritt drei Stufen auf einmal erklomm. Dann stand er vor W.´s Büro. Er trug wieder diesen furchterregenden langen schwarzen Mantel und eine dichte schwarze Bärenfellmütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, so dass man sein Gesicht schwerlich erkennen konnte. Überhaupt hatte er seltsam konturenlose Gesichtszüge, wie es sich für einen Boten eben gehört, der ja niemals in eigener Sache auftritt, sondern immer nur im ergebenen Dienste für seinen Herrn unterwegs ist. In seinen mit dicken schwarzen Wollhandschuhen umhüllten Händen hielt er eine versiegelte Pergamentrolle, die er W. wortlos und ohne erkennbaren Gesichtsausdruck überreichte. Gleich darauf drehte er um, stieg eilends die Treppe hinab und entschwand auf seinem Schimmel im Dunstschleier des Winternebels.

 

Da stand W. nun also mit der Pergamentrolle, die ihm der Bote gebracht hatte. Er brauchte sie gar nicht zu öffnen. Es war eine Vorladung in den Faulturm; das wusste W. sofort; er hatte es schon gewusst, als er aus der Ferne dieses entsetzliche Klappern der Hufen gehört hatte, denn dieses Mal hatte es noch bedrohlicher als sonst geklungen. Als W. sich schließlich überwunden hatte, die Pergamentrolle doch zu öffnen, fand er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Er sollte sich bereits am darauffolgenden Vormittag bei der Debitorenabteilung einfinden. Sicherlich hatte er wieder einmal an irgendeinem verfluchten Montagmorgen beim Einpflegen der Abfüllzugänge seine Tour nicht über F8 abgeschlossen, oder ein 40-Liter-Fass zuzubuchen vergessen. Und nun würde er sich für sein Tun und Lassen verantworten müssen; er würde den ehrwürdigen Herren Debitorenbuchhaltern Rede und Antwort stehen; man würde über ihn zu Gerichte sitzen; demütige Buße würde er zu leisten haben, und gewiss würde er für seine Verfehlungen öffentlich gegeißelt werden.

 

Am nächsten Tag begab sich W. bereits vor dem Morgengrauen auf den Weg in den Faulturm; ein Weg, der für ihn einen Gang nach Canossa bedeutete. Barfuß und nur mit einem härenen Büßerhemd bekleidet beschritt W. diesen  leidvollen Weg in klirrender Kälte durch die endlosen Schneemassen. Einige Stunden würde er zweifellos benötigen, um von seinem Büro in dem Backsteingebäude aus in den Faulturm zu gelangen. Gewiss, es lagen eigentlich nur einige Hundert Fuß zwischen der Fertigungssteuerung und dem Faulturm. Es führte jedoch kein gerader Weg dorthin, vielmehr musste man über einen unwegsamen Pfad wandern, der derart  kurvenreich und verschlungen war, dass er sich bislang allen Bemühungen, ihn kartographisch zu erfassen, erfolgreich widersetzen konnte.

 

In der ersten Viertelstunde nach W.´s Aufbruch hatte es für ihn noch den Anschein, als würde er den Weg einigermaßen zügig zurücklegen können. Dann allerdings begann der Pfad, seine Tücken zu zeigen; es ging immer schleppender voran und schließlich blieben die Fortschritte gänzlich aus. Dabei konnte W. auf dem gesamten Weg den Faulturm mit bloßem Auge deutlich vor sich erkennen. Zwar schimmerten seine Lichter nur blass durch den Nebel in der Dämmerung des anbrechenden Tages; jedoch sah man, dass der Turm in allernächster Nähe sein musste. Doch jedes Mal, wenn  W. glaubte, dass der Weg ihn nun unmittelbar auf den Turm zuführen würde, bog der Pfad plötzlich, wie mit Absicht, doch wieder in eine andere Richtung ab, und obgleich man sich von dem Faulturm nicht entfernte, so kam man ihm doch auch nicht wesentlich näher.

 

Während der ganzen Zeit schien es W., als ob der Faulturm ihn beobachten würde. Schon oft hatte er dieses ungute Gefühl gehabt; insbesondere dann, wenn er in seinem Büro saß und sich erfolglos an irgendwelchen Leergutumbuchungen versuchte. Er hatte bereits einige Zeit zuvor seinen Schreibtisch ein Stück weit vom Fenster seines Büros weggerückt, in der Hoffnung, dass  der Faulturm ihn so nicht sehen könne. Auch hatte er sich angewöhnt, bei allen buchungstechnischen Vorgängen die Vorhänge in seinem Büro zuzuziehen. Aber es half nichts; der Turm sah alles; er merkte sofort, wenn W. wieder einmal die Material-Stücklisten zu manipulieren versuchte, um auf diese Weise fehlerhafte Warenbewegungen zu vertuschen. Sorgfältig und  unablässig schien der Faulturm W. zu beobachten; seine zahllosen quadratischen Fenster mit ihren hässlichen dunkelgrünen Fensterrahmen waren wie Augen; strenge und wachsame Augen, denen nichts entging.

 

Inzwischen war der Tag angebrochen; von Hellwerden mochte man nicht sprechen, in jenen düsteren Wintertagen, aber jedenfalls war es nun nicht mehr nachtdunkel. W. begann, sich darüber Gedanken zu machen, was er vor den ehrwürdigen Herren zu seiner Verteidigung vorbringen solle. Ganz sicher würde es keinen Sinn machen, die ihm zur Last gelegten Verfehlungen zu bestreiten, denn seine Schuld war eindeutig und sie wog schwer, wenngleich W. die Anklage im einzelnen noch gar nicht kannte. Er hatte auch schon überlegt, ob es günstig wäre, einen Advokaten mit seiner Verteidigung zu beauftragen; aber er verwarf den Gedanken sogleich wieder, denn dies hätte den Verdacht, den seine Ankläger gegen ihn hegten, zweifellos noch verstärkt.

 

Und dann plötzlich, es mochte vielleicht schon gegen Mittag gewesen sein, zu einem Zeitpunkt, als W. schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte, da tauchte der Faulturm ohne jegliche Vorwarnung direkt vor seinen Augen auf. Noch nie zuvor hatte W. so dicht vor dem Turm gestanden und der Schauder ergriff ihn beim Anblick dieses steinernen Ungetüms mit seinen abstoßenden dunkelgrünen Fensterrahmen. Fast würfelförmig war der Turm, und ringsherum war er mit seltsamen rechteckigen und ockerfarbenen Platten verkleidet, aus einem Material, das W. nicht kannte. In weitem Umkreis um den Turm lagerten unzählige Menschen in Schlafsäcken; gleichsam wie Müllsäcke übereinandergestapelt lagen sie da.

Es waren die Debitoren, säumige Schuldner, die ihre Verbindlichkeiten nicht zu begleichen vermochten. Tagelang oder gar wochenlang mochten sie hier vor dem Eingang in der eisigen Kälte ausharren und warteten darauf, in den Faulturm vorgelassen zu werden, um dort  winselnd und flehend um eine Stundung ihrer Schuld nachzusuchen. Es waren allesamt erbärmliche Gestalten, zumeist in geflickte Kartoffelsäcke gekleidet; sie hatten einen seltsam hohlen Blick und ihre Gesichter waren zerfurcht und gezeichnet von der Schuld, die auf ihnen lastete.

 

Hin und wieder sah man auch fliegende Händler vorbeiziehen; sie kamen aus der ganzen Stadt, um die vor dem Faulturm lagernden Menschenmassen mit Proviant zu versorgen. Da fiel W. ein, dass er auf dem ganzen langen Marsch noch nichts zu sich genommen hatte. Er hatte auch eigentlich gar keinen großen Appetit, aber etwas Heißes zum Aufwärmen würde ihm sicher gut tun, und so beschloss er, auf einen der Händler zuzugehen, der gerade ein wenig gelangweilt am Wegrand herumstand. Der Händler hatte eine äußerst bauernhafte Erscheinung; sein Äußeres wirkte knorrig und kantig mit überaus derben Gesichtszügen;  man sah ihm auf den ersten Blick an, dass er vom Lande kommen musste. W. bat ihn um einen heißen Punsch. Der Händler nannte einen Preis, und er war ziemlich erstaunt, ja geradezu enttäuscht, als W. diesen sogleich anstandslos bezahlen wollte. Der Händler war gewohnt, mit seinen Kunden hier vor dem Faulturm hart zu feilschen. Da sprach er zu W.: „Sie sind wohl neu hier“; dabei musterte er ihn genauestens von Kopf bis Fuß und dann fuhr er fort: „Bestimmt haben Sie eine Vorladung in die Debitorenabteilung; Sie haben Ihre Tour nicht über F8 abgeschlossen, nicht wahr?“ W. fuhr erschrocken zusammen. Wie hatte der Händler das wissen können? Stand etwa auch W. seine Schuld schon offen ins Gesicht geschrieben, so wie diesen jämmerlichen Tagdieben, die hier jahraus, jahrein vor dem Faulturm herumlungerten?

 

Doch W. konnte jetzt nicht lange nachdenken. Es war schon reichlich spät geworden und gewiss würden die ehrwürdigen Herren Debitorenbuchhalter für seine Unpünktlichkeit nicht viel Verständnis aufbringen. Und so begab er sich, nachdem er hastig seinen Punsch ausgetrunken hatte, sogleich in Richtung Eingangstor. Dabei musste er mühsam über die zahllosen Menschenmengen klettern, die hier, je mehr man sich dem Portal näherte, in immer dichteren und undurchdringlicheren Reihen übereinandergeschichtet lagen. Endlich hatte er das Tor erreicht. Der Empfangsschalter befand sich nicht, wie sonst üblich, in der Eingangshalle im Inneren des Gebäudes, sondern bereits draußen, unmittelbar vor dem Eingang. Die Empfangsdame, die hier an ihrem Schreibtisch neben einem offenen Feuer saß, war eine wohlbeleibte und kräftig gebaute Frau mittleren Alters. Sie hatte ein überaus resolutes Auftreten, was in ihrer Stellung auch sicherlich unbedingt geboten war, musste sie doch tagtäglich die Massen bändigen, die hier jammernd und wehklagend in den Faulturm drängten. Was er hier wolle, fragte sie W. in strengem, fast vorwurfsvollem Tonfall, als dieser an ihren Schreibtisch trat. Ein wenig verlegen kramte W. in seiner Manteltasche; dann zog er die Pergamentrolle hervor, die ihm der Bote am Vortag in sein Büro gebracht hatte und zeigte sie der Empfangsdame. Ihre Strenge schien sich augenblicklich in mitleidige Besorgnis zu verwandeln, als sie das Schreiben sah. Er möge sich doch bitte schnellstmöglich ins oberste Stockwerk begeben, dort würde man bereits auf ihn warten, bedeutete sie ihm. Sie sprach jetzt mit W. so, wie man mit einem Patienten spricht, der an einer unheilbaren Krankheit leidet. Dann griff sie unter ihren Schreibtisch, holte von dort ein kleines gepolstertes Kissen hervor und überreichte es W. ohne weiteren Kommentar. W. wusste zwar nicht, wozu dieses Kissen dienen sollte; er wagte jedoch auch nicht, danach zu fragen. Und so klemmte er es unter den Arm und schritt durch das Portal.

 

W. erschauerte vor Ehrfurcht, als er den Turm betrat. Es war ein Gefühl, wie wenn man das Innere einer gotischen Kathedrale erblickt, und es kam W. vor, als würde es hier auch ein wenig nach Weihrauch duften. Das Erdgeschoß bestand aus einer einzigen großen Wandelhalle, wohingegen die Büros allesamt in den darüberliegenden Etagen untergebracht waren. Eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Spitzbögen überspannte die Decke des weiten Raumes. Getragen wurden diese von ebenso unzähligen Säulen aus Alabaster und Lapislazuli, die abwechselnd mit dorischen und korinthischen Säulenkapitellen bekrönt waren.

W. wunderte sich sehr darüber, dass es hier im Inneren des Gebäudes überall stockfinster war; denn obwohl der Turm von außen betrachtet eine Vielzahl von Fenstern besaß, drang doch keinerlei Tageslicht in die Innenräume vor. Beleuchtet wurden die Räume nur durch brennende Fackeln, die an den Wänden hingen, sowie von einigen Wachskerzen, die in unregelmäßigen Abständen auf Kerzenständern aufgestellt waren.

 

Es herrschte jetzt reger Parteienverkehr im Faulturm, und der Menschenandrang war hier nicht minder gewaltig als draußen vor dem Tor. Auch hier standen, saßen und lagen überall die Debitoren herum; es waren diejenigen, die sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium ihres Wartens befanden, die nicht mehr draußen in der Kälte ausharren mussten, sondern sich hier bei den brennenden Fackeln aufwärmen durften. W. zwängte sich die Treppen hinauf in das vierte Obergeschoß, vorbei an all den Schmarotzern, die da auf den Treppenstufen lagen und schliefen. Je weiter sich W. nach oben emporarbeitete, desto finsterer wurde es um ihn herum. Nur noch wenige, schwache Fackeln erhellten die Räume in den höheren Etagen, und die Luft wurde nach oben hin immer stickiger; von dem anfänglichen Weihrauchduft war bald nichts mehr zu spüren.

 

Mühsam um Luft ringend erreichte W. das oberste Stockwerk. Wo genau die Debitorenabteilung sich befand, hatte ihm die Empfangsdame nicht gesagt. W. blickte ein wenig unsicher um sich. Da sah er, wie aus dem Halbdunkel ein hochgewachsener, schlanker Mann mit dunkelroter Uniform auf ihn zukam. Es war der Lakai der Debitorenbuchhalter; man konnte es an den blauen Streifen auf seiner Uniform erkennen. Ohne zu grüßen, forderte er W. auf, ihm zu folgen. Offensichtlich hatte er hier auf W. gewartet, mit dem Auftrag, ihn zu den hohen Herren zu begleiten. In seiner linken Hand hielt er eine Kerze, mit der er W. voranleuchtete. Der Weg führte zunächst durch einen langen, schmalen Flur, an dessen Ende man im Kerzenschein undeutlich eine altmodische Holztür erkennen konnte. Die Luft wurde jetzt immer ungesünder, und W. begann, seinen Mantel aufzuknöpfen. Als sie das Ende des Ganges erreicht hatten, holte der Lakai einen Schlüsselbund aus seiner Uniformjacke hervor und sperrte die Holztür auf, die dabei ganz entsetzlich quietschte. Dahinter verbarg sich ein niedriger, schmaler und fensterloser Raum, in dessen Mitte ein altes Bett aufgestellt war; es war das Schlafzimmer des Vorstandschefs, der sich hier gerade zu seinem Mittagsschlaf zurückgezogen hatte. Auf dem Fußboden vor dem Bett hatte er einen Nachttopf und eine Öllampe stehen. Neben dem Kopfende befand sich noch ein altertümlicher Holzschemel, auf dem sich zahllose Hustenbonbons bis unter die niedere Decke türmten. Der Vorstandschef litt unter chronischen Hustenbeschwerden, die er mit diesen Bonbons zu lindern suchte.

 

Die Längsseite des Bettes reichte genau von einer Wand bis zur gegenüberliegenden, und so mussten W. und der Lakai, um ans andere Ende des Zimmers zu gelangen, über das Bett hinübersteigen. Der Lakai tat dies so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. W. zierte sich, es ihm nachzutun; schließlich wollte er den Vorstandschef nicht aufwecken. Doch als der Lakai ihn auffordernd zu sich winkte, kletterte auch W. über das Bett, wobei der inzwischen erwachte Vorstandschef sich mehrmals heftig räusperte. Als W. auf der anderen Seite angelangt war, erblickte er im flackernden Kerzenlicht vor sich am Ende des Raumes eine schmale und steile Holztreppe; sie führte auf den Dachboden. W. wunderte sich darüber sehr;  er hatte nicht geahnt, dass der Faulturm überhaupt einen Dachboden besaß. Denn wenn man den Turm von außen betrachtete, so konnte man über dem vierten Obergeschoß nur ein vollkommen flaches Dach erkennen; von einem Dachstuhl war weit und breit nichts zu sehen. Neben dem Treppenaufgang hing an der Wand ein verstaubtes altes Schild mit einem Pfeil, auf dem in Frakturschrift zu lesen stand: „Zu den Debitorenkanzleien“. Der Lakai führte W. die Treppe hinauf. W. fand es auch sehr merkwürdig, dass die Treppe sehr weit nach oben führte, obwohl doch das darunterliegende Zimmer so niedrig war. Unmittelbar hinter der obersten Stufe war eine schwere Eisentür mit einem globigen Vorhängeschloss angebracht. W.‘s Begleiter zog auch hierfür einen Schlüssel aus seiner Uniform hervor und öffnete die Tür. Mit einer barocken Geste seiner Hand forderte er W. auf, einzutreten. Er selbst blieb hinter der Tür auf der obersten Treppenstufe stehen. Als W. hineingegangen war, sperrte er hinter ihm zu und ließ W. allein.

 

Hinter dem Eingang erstreckte sich ein langgezogener Korridor, und in der Dunkelheit konnte man dessen Ende gar nicht absehen. Die Decke hier auf dem Dachboden war noch niedriger als unten im Schlafzimmer des Vorstandschefs, so dass man hier nur noch in gebückter Haltung stehen konnte. Die Warteschlange der hier vorgeladenen Debitoren füllte den ganzen langen Gang aus; sie alle standen da mit gebeugtem Rücken, und alle hatten sie ein gepolstertes Kissen zwischen den Kopf und die niedere Zimmerdecke gelegt, um sich nicht wundzudrücken; ein gleiches Kissen, wie auch W. es unten am Eingangstor von der Empfangsdame erhalten hatte. Hier konnte W. sich nicht vorbeimogeln; auch er musste sich nun anstellen in der endlosen Reihe der Schuldner und warten, bis man ihn vorlassen würde. Wie hatte er sie immer verachtet, diese Parasiten, diese nichtswürdigen Bettler und Wegelagerer! Und nun sollte er mit ihnen Schulter an Schulter in einer Reihe stehen und warten! Und dann war vor allem diese miefige Luft; dieser entsetzliche Gestank; dieser Geruch von Schuld und Sühne!

 

Zu beiden Seiten des Korridors gab es Türen, die zu den Büros der Debitorenbuchhalter führten, und zwischen den Türen standen Bänke längs an den Wänden, auf denen unzählige Wartende stumm und mit teilnahmslosem Blick dasaßen. Aus den Büros drang leise das monotone, klimpernde Geräusch der Abakuskugeln sowie das sanfte Quietschen der Rechenschieber auf den Korridor. Gelegentlich wurde diese Monotonie durch den Aufschrei eines Buchhalters jäh unterbrochen. Darauf folgte dann immer ein langgezogenes Seufzen und anschließend, in verzweifeltem Tonfall, der Satz: „Oh, Gott, wir werden Strafe bezahlen müssen!“

 

Nach einiger Zeit öffnete sich plötzlich eine der Türen, und heraus traten zwei wohlgekleidete betagte Herren mit äußerst sorgenvoller Miene. Sie waren Debitorenbuchhalter; man konnte es an ihrem Blick unzweifelhaft erkennen. Die auf dem Gang wartenden Schuldner nahmen allesamt ihr Kissen vom Kopf, als die beiden erschienen; zum Zeichen der Ehrerbietung gegenüber den hohen Herren. Auch W. tat dies unwillkürlich. Einer der beiden hatte einen besonders würdevollen Gesichtsausdruck. Es musste sich um einen sehr ranghohen Buchhalter handeln; denn er hielt den Debitorenschlüssel in seiner Rechten. Gewiss zählte er zu den großen alten Debitorenbuchhaltern; zu den wenigen unter ihnen, die noch verblieben waren. Und ganz sicher gab es keinen Zweiten, der so virtuos den Abakus zu handhaben verstand, wie er; war er doch einer der Letzten, die das Debitorenhandwerk noch von Grund auf erlernt hatten. Welch erhabenen Anblick sie doch boten, diese beiden ehrwürdigen alten Männer, wie sie da auf Gehstöcke gestützt, gebeugt von der Last ihrer Jahre und gezeichnet von der Bürde ihres Amtes, bedächtig auf dem Korridor einherschritten! Als die beiden an W. vorbeikamen, blickten sie ihn auffallend misstrauisch an. Sie sprachen nicht mit ihm; doch ihre Augen schienen, unverkennbar in Richtung W. gerichtet, zu sagen: „Oh, Gott, oh, Gott, wir werden Strafe bezahlen müssen.“ Daraufhin zogen die hohen Herren weiter und verschwanden schließlich in der Dunkelheit in der Weite des langen Flures.

 

Nach einiger Zeit entdeckte W. auf dem Gang eine kleine runde Nische; in der stand eine Bank, die gerade nicht besetzt war. Inzwischen fühlte sich W. etwas müde, und daher beschloss er, Platz zu nehmen. Nachdem er sich gesetzt hatte, entdeckte er neben der Bank ein ovales Tischlein, auf dem sich eine Vielzahl von Heften stapelte, gerade so, wie im Wartezimmer einer Arztpraxis. Es handelte sich um lauter kleine, gelbe Reclam-Hefte. W. sah den Stapel durch und stellte fest, dass sie alle den gleichen Titel trugen: „Der Proceß“ von Franz Kafka.  W. griff sich eines der Hefte heraus und begann zu lesen ...